Zur Schreibaufgabe „Viele Wegen führen ins Krankenhaus“ oder „Viele Wege führen zur Weisheit“ vom Mai 2023

 

Notaufnahme

von Elisabeth Strasser


Herzinfarkt hat natürlich Priorität. Schwerverletzte nach einem Unfall ebenso. In meinem Dienst in der Notaufnahme alles Routine. Nachtdienst geht bis sechs Uhr. Jetzt ist es halb zwei. Herzinfarkte ereignen sich meist in der Früh. Mit etwas Glück komme ich ohne einen aus. Bisher ein Zehnjähriger nahe am Blinddarmdurchbruch und ein alkoholisierter Obdachloser mit zu nähender Schnittwunde. Besonders schlimm sind die Nachtdienste von Freitag auf Samstag. Da kommen gelegentlich Opfer von Messerstechereien, wenn die Leute vor lauter Übermut das Wochenende feiern und das aus dem Ruder läuft. Aber dieses Wochenenden habe ich endlich wieder frei. Den Freitag werde ich durchschlafen, dann ab ins Ferienhaus mit Angelika …

„Hubert!“ Sie rufen mich bei meinem Vornamen, „Herr Dozent Doktor Zaunbauer-Messerschmidt“ würde auch zu lange dauern. Ich habe soweit Routine, dass ich auf den Alarmruf „Hubert!“ gelassen reagiere. Ruhe bewahren ist bei meinem Job unbedingte Voraussetzung. – „Ja, Elfi, ich komme“, antworte ich und begebe mich zwar im Laufschritt, dennoch ohne zu hetzen, zur Notaufnahme.

Junger Mann mit Bauchstich. Offenbar kein lebenswichtiges Organ verletzt. Trotzdem Eile geboten wegen Blutverlust.
„Hubert!“ Gleich darauf Schussverletzung in linke Schulter. Schütze wohl ungeübt, wollte eher tödlichen Herzschuss anpeilen.
„Hubert!“ Fünfundvierzigjährige Frau kollabiert. Sie wird schon wieder.
„Hubert!“ Jugendliche, Überdosis Heroin. Wir halten sie am Leben.
Was ist in dieser Nacht bloß los, und das schon vor dem berüchtigten Freitagabend?

Psychologie hatte mich immer interessiert. Aber das Fach ziemlich überlaufen, so schrieb ich mich ins Studium der Humanmedizin ein. Interessehalber beschäftige ich mich weiterhin mit der Psyche, mit den Hintergründen, wer jene sind, die bei mir in der Notaufnahme landen.


* * *

 

„Angelika, ich erzähle dir jetzt eine Geschichte. Du kannst sie gerne für einen Roman verwenden.“ – „Oh ja, gerne, wie du weißt, bin ich süchtig nach Geschichten.“
Angelika im kirschroten Bikini im Liegestuhl auf der Terrasse unseres Wochenendhauses ist gespannt darauf. Ihr die Geschichte zu erzählen reizt mich noch mehr als ihr Anblick.

„Marion hat eine sechzehnjährige Tochter namens Mariella.“ – „Schöner Name.“ – „Ja, ihre Mutter hatte auch schöne Vorstellungen, was aus dem Mädchen werden könnte. Aber wie das öfter so ist, haben sich die Erwartungen nicht erfüllt. Ziemlich schlecht in der Schule, kaum Chance, die Matura zu schaffen. Außerdem ist sie durch ihren Freund Marco in schlechte Gesellschaft geraten.“ – „Marco und Mariella, das klingt fast noch poetischer als Romeo und Julia.“ – „So ähnlich lief das auch irgendwie. Pass auf: Marion hat einen Neffen namens Patrick. Gleichsam schwarzes Schaf der Familie. Nebenbei tätig als Drogendealer.“ – „Spannend.“ – „Ja. Einer seiner Kunden ist Marco, der Mariella einigen Stoff verschafft, für sie beide, um gemeinsam in eine andere Dimension abzutauchen.“ – „Oh ja, das wünsche ich mir auch gelegentlich.“ – „Marco als Automechanikerlehrling hat aber nicht genug Geld bei der Hand, das Patrick längst sehen will. So haben sie sich getroffen …“ – „Jetzt kommt der große Showdown, oder?“ – „Ja. Patrick: ‚Ich geb‘ dir nichts mehr, bis ich mein Geld sehe.‘ Marco: ‚Ich habe dir schon genug gegeben. Mariella braucht was.‘ Patrick: ‚Das hättest du dir früher überlegen sollen, bevor du meine Kusine da reingezogen hast.‘ Marco wird wütend, holt sein Springmesser raus und sticht Patrick in den Bauch. Der wiederum hat eine Schusswaffe, illegal natürlich, und schießt auf Marco. Weil er wegen seiner Stichverletzung nicht so ganz zielsicher ist, trifft er Marco bloß in die Schuler.“ – „Echt krass.“ – „Ja. Währenddessen gibt sich Mariella den Rest des Stoffs, den sie noch hat, dabei unbeabsichtigt Überdosis. Ihre Mutter findet sie, kann noch die Rettung rufen, bevor sie selber der Aufregung wegen kollabiert und gleich in die Notaufnahme mitgenommen wird.“ – „Und dort treffen alle Beteiligten zusammen.“ – „Genau. Um den Rest muss sich die Polizei kümmern. Ich bin da draußen. Genießen wir unser Wochenende.“ – „Ja, machen wir das. Und ich mache vielleicht einen Roman aus dieser Geschichte mit Arbeitstitel ‚Viele Wege führen ins Krankenaus‘. In deine Notaufnahme jedenfalls, mein Held.“