Zur Schreibaufgabe „Die Tür hing lose in den Angeln – jede beliebige Form möglich; der Satz kann an jeder Stelle des Textes verwendet werden“ vom Jänner 2021

 

Die Suche nach dem wahren Schatz

 

von Helga Maria Davy


Es waren einmal drei Geschwister, die mehr schlecht als recht ihr Auskommen fanden mit dem, was das Leben ihnen bot. Oft saßen sie nach getaner Arbeit beisammen und erzählten einander, was sie sich erträumten. „Einen Schatz müsste man finden!“, darin waren sie sich einig. „Ja, etwas wirklich Kostbares, etwas, was das Leben von Grund auf verändert!“

Und während sie da um das Feuer hockten und sehnsüchtig seufzten, stand plötzlich ein kleines Männchen vor ihnen. „Ich kann euch helfen“, sagte es. „Tausend Schritte von hier findet ihr eine Tür. Nur einem von euch ist es gegeben, von dort drinnen das Kostbarste mitzunehmen, das es gibt!“ Und das Männchen reichte ihnen ein Eimerchen, eine kleine Schaufel und einen schlichten Silberring. „Das werdet ihr brauchen“, sagte es noch, bevor es in der Dunkelheit verschwand.

Gleich am nächsten Morgen machte sich der älteste Bruder auf die Suche, und nach tausend Schritten stand er tatsächlich vor einer kleinen unscheinbaren Tür. Sie hing lose in den Angeln, und es gelang ihm mühelos, sie zu öffnen.

Da stand er und staunte und musste blinzeln, weil eine plötzliche Helligkeit ihn überfiel: Tausend und abertausende funkelnde Edelsteine schmückten die Wände, kristallene, diamantengeschmückte Luster hingen von den Decken, auf dem Boden stapelten sich goldene Münzen und aus großen Truhen quoll gleißender Schmuck überreich hervor. Es blitzte und funkelte und glitzerte und blendete den Jungen, sodass er die Augen kaum offen halten konnte.
Da meinte der Jüngling zu wissen, wofür ihm das Männchen die Schaufel geschenkt hatte, und er füllte den Eimer randvoll mit Schätzen, und als der Eimer voll war, stopfte er auch noch all seine Taschen aus und behängte sich mit allem Schmuck, den er tragen konnte. Außer sich vor Freude eilte er zurück zur Tür, lief hinaus und zu seinen Geschwistern, die bereits voller Spannung auf ihn warteten. „Seht nur, welch kostbare Dinge ich gefunden habe!“, rief er ihnen schon von weitem zu und schwang den Eimer hoch. Doch als er ihn vor ihren Füßen ausschüttete, polterten nur Steine heraus und das Geschmeide, das er umgehängt hatte, zerfloss wie Sand zwischen seinen Fingern.
„Du Dummerjan!“, rief sein jüngerer Bruder, „Hast du denn nicht an den Ring gedacht, den das Männchen uns geschenkt hat? Wahrscheinlich gibt es noch etwas viel Kostbareres zu finden als Gold und Edelsteine!“ Und er packte Eimer, Schaufel und Ring und machte sich auf den Weg.

Auch er fand die Tür und gelangte in die Höhle voller Schätze. Auch er schaufelte den Eimer voll mit Gold und Edelsteinen und behängte sich mit allem Geschmeide, das er fassen konnte. Dann aber überlegte er, was er mit dem schmalen Silberreif anfangen sollte. Da entdeckte er am Ende der Höhle eine weitere Tür. Vorsichtig öffnete er sie und gelangte in einen neuen Raum. Prunkvoll wie ein Tanzsaal war dieser, Musik und Gelächter tönten ihm entgegen, und ausgelassene prächtig gekleidete Menschen schauten ihn interessiert an. Und noch während er mit offenem Mund stand und staunte, kam eine wunderschöne elegante Frau auf ihn zu und reichte ihm die Hand zum Tanz. Und er schwebte mit ihr über das Parkett, und es wurde ihm ganz schwindelig vor lauter Glück und Seligkeit, dass die schönste und begehrenswerteste aller Frauen ausgerechnet ihn, den einfachen Mann, gewählt hatte.

Jetzt strich die Frau zärtlich über die schwere Goldkette, die um seinen Hals hing. Da zog er das letzte Geschenk des Männchens aus seiner Tasche, den schmalen Silberring, und steckte ihn an ihren Finger. Naserümpfend schaute die Frau darauf, und auch ihm kam der Ring jetzt lächerlich billig vor. Da suchte er aus seinen Schätzen einen anderen, prächtigen und schob ihn dem schmalen Ring hinterher. Jetzt leuchtete das Gesicht der Frau auf und er fasste sie an den Händen und zog sie mit sich zur Tür hinaus. Als sie zur Schatzkammer kamen, schürzte die Frau ihren Rock und füllte ihn bis zum Rand mit allem Gold und Geschmeide, das sie kriegen konnte. Erst als er ihr versprach, bald wieder hierher zu kommen, war sie bereit, mit ihm hinauszugehen.

Stolz und glücklich rief er seinen Geschwistern von weitem zu, er hätte seinen wahren Schatz gefunden. Da tat es einen Donner, und alles Gold und alle Juwelen zerrannen vor ihren Augen und es blieb nichts übrig als feiner Sand, der im Wind verwehte. Da fauchte die Frau wütend auf, warf dem Jüngling den Silberring vor die Füße, verwandelte sich vor ihren Augen in eine hässliche Hexe und entschwand, nicht ohne einen üblen Schwefelgeruch zu hinterlassen.

Da war nur mehr die Schwester übrig, und die Brüder lachten sie aus, weil sie so verträumt war und gar nicht geschäftstüchtig. „Wie willst du denn einen Schatz finden?“, spotteten sie, aber das Mädchen ließ sich nicht beirren und fand die geheimnisvolle Tür.

Da stand es und schaute, schritt von einer Truhe zur nächsten, strich hier über einen goldenen Zapfen, der von der Decke hing, brachte dort einen leuchtenden Luster zum Schwingen, ließ goldene Münzen durch ihre Finger gleiten, legte sich eine Perlenkette um den Hals und tat sie wieder zurück.
Das Mädchen war verwirrt.
Wie sollte es hier den größten Schatz wählen können?
Alles erschien ihm gleich prunkvoll, und doch zugleich schal. Nichts davon berührte sein Herz, so prächtig und verlockend es sich ihm auch darstellte.

Schließlich entdeckte auch das Mädchen die Tür zum Festsaal und da stand es wieder, aber im Gegensatz zu seinem Bruder wurde es von der feinen Gesellschaft gar nicht beachtet, so schlicht und unscheinbar wie es war. Nur ein Junge schaute es an und blickte doch zugleich mit sehnsüchtigen Augen in die Ferne, ganz verloren und fremd kam er ihr vor, wie er so dastand inmitten des ausgelassenen Treibens.
„Ich bin der Sohn des Gärtners, ich sollte den Damen Blumen bringen und die schönste unter ihnen zur Blumenkönigin wählen“, sagte er, als sie ihn fragte. „Aber hier würden die Pflanzen nur vorschnell welken, und keiner der Menschen hier weiß die Schönheit einer Blume wirklich zu schätzen. Du“, sagte er schüchtern, „du könntest meine Blumenkönigin sein.“
Da steckte das Mädchen den Ring des Männchens an den Finger des Burschen. „Du bist ein Schatz“, sagte es. Er aber nahm es an der Hand: „Komm, ich zeige dir einen wirklichen Schatz!“ und er zog es durch eine unscheinbare Hintertür hinaus.

Lange gingen sie, es war ein dunkler schmaler Gang, aus Felsen und Lehm gebaut, und als das Mädchen schon nicht mehr glaubte, jemals wieder Licht zu sehen, nahm es plötzlich einen süßen Duft wahr und endlich auch einen sanften Lichtstrahl, gepaart mit dem Geräusch leisen Plätscherns.

Und schließlich weitete sich der Gang zu einer kleinen Höhle, und dort, am Ufer einer kleinen Quelle, wurzelte ein blassgrünes zart duftendes Pflänzchen.
Ehrfürchtig beugte das Mädchen sich darüber. „Es ist so kümmerlich“, sagte der Jüngling traurig. „Zu wenig Licht dringt hier herein, aber niemand hat es bis jetzt geschafft, es auszugraben und an einen besseren Ort zu bringen.“

Da nahm das Mädchen die kleine Schaufel, die das Männchen ihm geschenkt hatte, und stach sie vorsichtig in das Erdreich rings um die Pflanze. Ganz behutsam, um keine Wurzel zu verletzen, grub es das Pflänzchen aus und legte es in seinen Eimer.
Da staunte der Bursche und war ergriffen von der zärtlichen Kraft, die von dem Mädchen ausging. Und wieder nahm er es an die Hand und führte es den Weg hinaus, den der Lichtstrahl anzeigte, und sie kamen auf eine wunderschöne Lichtung mitten im Wald und ein Bächlein floss hindurch und hier an dessen Ufer setzten sie das Pflänzchen ein und pflegten und hüteten es sorgsam Tag und Nacht. Und das Pflänzchen dankte es ihnen und wuchs und gedieh und wurde zu einer prächtigen Pflanze, die blühte und fruchtete und deren Samen wiederum neue wunderbare Pflanzen sprießen ließen, die ihrerseits köstliche Früchte hervorbrachten, die das Mädchen und ihren Gärtnerjungen nährten und ihnen Genuss und Freude spendeten.

Was mit den Brüdern passierte, wollt ihr wissen?
Nun, die beiden hatten ihre Lektion gelernt: Sie machten sich auf die Suche nach ihrer Schwester und als sie sie schließlich fanden, verstanden sie, was ein wahrer Schatz ist, und sie blieben bei dem Mädchen, das inzwischen die Frau des Gärtnerjungen geworden war, und halfen mit, die Pflanzen zu betreuen.
Und so lebten sie alle zusammen glücklich und zufrieden und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heute.


Der Text erhielt den ersten Preis der Sparte „Märchen“

bei der Ausschreibung „Akut 2021“