Heidemarie Sauer:

 

Die innere Kompassnadel zeigt nach ...

(2. Version)

 

An diesem gottverlassenen Nachmittag, draußen war es so kalt, dass sogar im Radio eine Warnung vor Glatteisgefahr durchgegeben wurde, tappte ich die rutschigen Wege entlang, kaum dass ich den alten Füßen noch Halt geben konnte.

 

Ich wohne in Linz. Mittendrin. Fast am Hauptplatz. Pfarrgasse. Gässchen wäre wohl besser gesagt. Pfarrgässchen.

Auch dieses so richtig gefährlich nass und glatt an diesem gottverlassenen Nachmittag.

 

Kunst-Uni, Pfarrplatz. Kollegiumgasse.

Keine Menschen auf der Straße, nur die Winterdienstarbeiter der Linz AG. Die hatten sicher Sonderschicht bei diesem Sauwetter.

 

In einer Art kindischer Hoffnung auf den Kuss der Muse bewegte ich mich Richtung „text-spur“, so heißt meine Schreibgruppe. Sie findet immer in einem so genannten Kulturwirtshaus statt, und dieses befindet sich gleich neben dem Barbarafriedhof.

Jedes Mal ist es eine Überwindung, hinzugehen, eine Überwindung zum ersten Satz, ... Und doch ...

 

Aber was erzähle ich da?

Ich hasse es doch, wenn diese „Teilzeitautoren“ über die Schwierigkeit des Schreibens schreiben! Oder wenn ach so „arme“ Lehrer über schlimme Schüler schnaufen.

Oder wenn die Theaterleute, ja die Theaterleute, ich kenne einige, wenn sie die furchtbaren Anforderungen der Bühne hochmonologisieren! Ich hasse es – und – ich applaudiere – höflich, wieder und wieder.

 

Warum stört es mich eigentlich nicht, wenn ein Gärtner über seine schwere Arbeit klagt, oder ein Bauer übers schlechte Wetter jammert, und über die niedrigen Preise? Warum erlaube ich jedem herumpatzenden Fernsehkoch seine elendigen Schmortopf-Rezept Plattitüden? Und mir, mir erlaube ich nicht einmal mein ganz persönliches literarisches Oeuvre, mit meinem eigenen Namen obenauf?

 

Literarisches Oeuvre! Mein körperliches Hinbewegen zu unserem Monatstreffen hat wohl dieses Fünkchen Hoffnung zum Größenwahn entfacht!

 

Literarisches Oeuvre!

Seit drei Wochen keine klaren Überlegungen vollzogen, und künstlerische Einfälle schon gar nicht gehabt. Nur Lärm im Kopf! Getöse! Donnernde Scheiße im Hirn!

Literarisches Oeuvre!

Seit Monaten völlig orientierungslos.

 

Dametzstraße.

 

Keine provokanten oder skurrilen Gedankengänge, wie sie von vielen meiner Bekannten und auch von mir selbst geschätzt werden in diesem klischierten Ramsch der Linzer Textschwemmen.

Lärm im Schädel und Hörgeräte im Ohr – diese tun ja ihr Übriges  zum Überschnappen. Das weiß jeder, der welche tragen muss.

 

Was für ein sinnloses, unwertes Leben, fürwahr.

 

Das sagt man nicht!

 

Ja, rüge mich nur, du Siebengescheiter, du – der du in meinem Kopfe ständig herumnörgelst, mich ständig belehrst. Unwertes Leben, ich weiß, sagt man nicht, sagt man heute nicht mehr. Aber ich sage dir: Wirf nicht mit Steinen auf mich, du da oben. Denn auf den ersten Stein folgt ein zweiter, ein dritter ...

 

Die Hörgeräte solltest du zwischendurch rausnehmen, wenn du so empfindlich bist!

 

Du machst mich schädelschwer. Jede Rüge ist schwer wie ein Felsen, Geröllhalden von Belehrungen, die abdonnern, alles verschütten, nichts Vernünftiges auslösen! Du, du da oben!

 

Hessenplatz.

 

Nun, dachte ich während des Gehens, werde ich doch ganz konkret meinen Weg in den Suizid durchplanen.

Aber: Auf einer glattnassen Straße schreitet niemand diesen Weg aus. Dafür wünscht man sich ein warmes Bett, die wohlige Erschlaffung, der man dann prickelnde Lüftchen eitler Sterbeszenen zufächeln könnte.

Jetzt aber war ich auf der Straße! Und ich war definitiv auf der Suche nach meinem ominösen Lebensinhalt, und bestünde dieser auch nur aus den ersten drei Sätzen meines tausendseitigen Romans.

 

Humboldtstraße. Querab Schillerstraße.

 

Diese Lust auf gute Sätze.

Eigentlich ziemlich wenig für jemanden, der immer das große Glück erwartete, nicht ein paar nette Sätze, sondern Lebenslust pur.

Doch da war niemand, mit dem ich diese Lust auf die Lust teilen konnte. Üblicherweise formulierte ich sie für mich selbst. Nun aber auch das seit drei Wochen überhaupt nicht mehr, so müde und krank fühlte ich mich.

 

Also doch sterben! Vorbei Hoffnung, vorbei Kunst. Niemand wird was von mir lesen. Ade liebes Leben, garstiges Leben oder sonst was Leben. Aber wenn schon sterben, frühzeitig, dann wenigstens so, dass ich auch sagen kann, warum. Die Richtung beschreiben, die mein Leben gerne eingeschlagen hätte! Das muss doch wohl erlaubt sein!

Das darf ich doch wohl verlangen, auch ich noch verlangen zu allerletzt nach diesem chaotischen Tohuwabohu von Leben, oder nicht?

Aber wie diese Richtung beschreiben? Was meint denn da Richtung? Norden oder Süden oder Ost/West? Wie dieses beschreiben, gar finden, wenn einem das Wichtigste für die Angabe von Richtungen fehlt? Ein Kompass im Inneren nämlich mit so einer Nadel, auf die man sich verlassen kann!

Da! Ein oranges Licht!

Goethestraße.

Es spritzte förmlich aus der dämmrigen Dunkelheit zu mir her, umschlang eine Dachrinne, welche mit feuchter Haut ihren Weg durch den Gehsteig hindurch abwärts bahnte. Es glitzerte in den dicken Wassertropfen auf einem Fensterbrett, und es beperlte die Scheibengläser darüber. Es brach sich feurig darin. Und ich schaute versonnen zu wie es sich sanft lebendig an alles Mauerwerk ringsum schmiegte.

Es war das Funkelfeuer eines Müllwagens. Männer leerten die Mistkübel, welche in meiner ordentlichen Stadt an jedem Eck aufgestellt sind.

Plötzlich hinter mir ein Räuspern, ein Hüsteln. Es holperte über meinen Rücken in meine Hörgeräte in mein Ohr hinein. Ich verstand sofort. Machte einen Schritt zur Seite. Ein kräftiger Mann hob den Mistbehälter aus der Halterung, kippte seinen touristischen Inhalt samt Linzer Einwohnermist auf die Ladefläche des kleinen Lastwagens und hing den Eimer wieder zügig ein.

Die Männer wirkten sehr gut organisiert. Wussten offenbar immer genau, wie und wohin sie ihre Kräfte steuern wollten. Ob sie bei ihrer Arbeit einen Kompass benutzten? Ob sie diese innere Nadel regelmäßig kalibrierten? Was für eine Frage ist das nur. Ich warf sie schnell in den nächsten Eimer, der neben mir auftauchte, als ich weiter ging, orientierungslos wie eh und je. Trotz meines vermeintlichen Orientierungsdefizits habe ich meine Textspur gefunden.

Wie konnte mir das nur gelingen?

 

Das ist der erste Satz meines literarischen Oeuvres.